Das Drama und der Generalsekretär. Offener Brief an Andreas Scheuer

Sehr geehrter Herr Scheuer,

wir kennen uns nicht. Möglicherweise haben wir einen gemeinsamen Bekannten, aber das weiß ich nicht sicher zu sagen. Ich schreibe Ihnen, weil Sie mich aufgeregt haben, und ich finde, es steht Ihnen nicht zu, dass Sie mich aufregen.

Drei Gründe, drei Anlässe. Es sind dies eine Äußerung in unserer Lokalzeitung PNP, der Passauer Neuen Presse, zweitens Ihre Reaktion auf den seltsamen Monolog von Til Schweiger und schließlich Ihr Interview in der Pawo, der Passauer Woche, einem Anzeigenblatt von einiger Bedeutung für den hiesigen Raum.

In der PNP haben Sie gesagt, und ich zitiere aus der Erinnerung: „Wir können nicht die ganze Welt aufnehmen.“

In der Passauer Woche haben Sie einige kopfschütteln machende Sätze geäußert wie „Es darf keine rechtsfreien Räume geben“.

Und schließlich Ihre aus meiner Sicht hilflose Reaktion auf Til Schweiger – Schweiger hat Sie auf dem falschen Fuß erwischt.

Schweiger hat sich als Rüpel präsentiert. Man mag ihm zugute halten, dass er sich für etwas Besonderes hält und deshalb Spielräume gerne auch für Publicity nutzt und für Polarisierung; vielleicht aber ist es auch wirklich hohe Zeit, dass Ihnen und Ihresgleichen, der Politikerkaste, deutlich gemacht wird, dass Sie an uns, Ihrem Volk, kaum mehr interessiert zu sein scheinen.

Warum, so frage ich mich, wenn ich mir die Talkshow anschaue, sind Sie nicht erschrocken über den Ausbruch des Schauspielers? Warum haben Sie, der Profi, nicht sofort eine neue Saite gezupft und diesen Moment der Schwäche, der Rüpelei, zum Anlass genommen, Größe zu zeigen?

Wie das hätte aussehen können? Das könnte Ihnen jeder Mediator sagen, und ich bin sicher, dass Sie in dieser Hinsicht mit allen Wassern gewaschen sind. Sie hätten spüren müssen (ja! müssen!), dass hier eine Stimmung anklingt von erschöpfter Geduld, zur Neige gehendem Verständnis, von Zorn über die Untätigkeit Ihrer Zunft. Dass Sie keinen leichten Job haben, nehme ich Ihnen sofort ab. Warum aber nutzen Sie Instrumentarien, die nicht mehr greifen? Warum verhalten Sie sich auf eine Weise, die man in weniger furchtbaren Zeiten seufzend akzeptieren mag – jetzt aber im Angesicht der Katastrophe nicht mehr hinnehmen mag, kann, darf?

Warum haben Sie, der Polit-Profi, Schweigers Ausbruch nicht konstruktiv gekontert? Sie wirkten überfordert, in Ihrem Gesicht stand die Frage, ob der Schweiger so etwas dürfe, und Sie reagierten – nicht. Sie haben die Chance verpasst, Schweigers Wut aufzugreifen und ernst zu nehmen. Sie haben die Chance nicht genutzt, nachzufragen. Wie können Sie es ohne erkennbare Regung hinnehmen, dass Sie jemandem „auf den Sack gehen“?

Die Lehrbücher für Mediatoren raten in solchen Fällen wahrscheinlich so etwas wie „Ich sehe, du bist wütend. Ich spüre, dass ich/wir dich verärgern, enttäuschen. Wir stehen beide im Rampenlicht. Was also kann ich tun?“ Einmal abgesehen vom Lehrbuchcharakter dieser Sentenzen – mit dieser oder einer ähnlichen Reaktion hätten Sie Haltung gezeigt und sich als etwas präsentiert, was Sie ansonsten so selten zeigen: Man hätte Sie als Mensch wahrgenommen – nicht als Politiker.

Was passiert wäre? Ich weiß es nicht. Aber eines weiß ich ganz sicher: Alles wäre anders gewesen – und in der Folge geworden. Sie hätten Zuversicht vermittelt. Sie hätten erkennen lassen, dass Sie mehr parat haben als nur Floskeln. Floskeln wie die, wir könnten nicht die ganze Welt aufnehmen. Hat das je jemand verlangt? Erwartet das irgendein halbwegs realitätsnaher Bürger? Soweit ich das aus meinem Passauer Herrgottswinkel heraus beurteilen kann, nein. Es hätte jedoch durchaus etwas von Gnade gehabt, wenn Sie sich der Mittelmeer-Boat-People angenommen hätten. Mit diesem Satz aber sind Sie auf die Ebene gesprungen des Populismus. Sie haben alles negiert mit dieser Aussage, was so wünschenswert wäre: Intelligenz, Überlegtheit, Nachdenklichkeit. Und Ernsthaftigkeit.

Wenn Sie diesen Satz in Schalding rechts der Donau am einzigen Stammtisch vom Stapel ließen, die Köpfe würden nicken. Beifall wäre Ihnen sicher. Ist es das, was Sie antreibt?

In einem Interview aber (das redigiert und von Ihnen oder Ihrem Pressestab autorisiert wird) entlarvt das Ihre Art, wie Sie umgehen mit dem Drama vor unserer Haustür und in unserem Haus. Und wie Sie persönlich darüber denken. Glauben Sie, dass Sie mit dieser Geisteshaltung der Sache gerecht werden?

Abgesehen vom Pöbel, abgesehen von den Ängstlichen und Zeternden, den Brüllenden, den Brandstiftern und den Dummen, den Furchtsamen und den Phobikern, abgesehen von diesen Typen, weiß jeder, dass dies eine erbarmungswürdige Einstellung ist, die Sie an den Tag legen. Und eine, die jeden Menschen klaren Verstandes das Schlimmste befürchten lassen muss.

Das Schlimmste?

Noch sind wir (vielleicht) weit davon entfernt. Aber ist es so schwer, die Völkerwanderung als das zu sehen, was sie mit sich trägt? Als eine noch nicht einmal im Ansatz verstandene Veränderung der Welt? Doch Sie und andere faseln (bitte verzeihen Sie den Ausdruck, aber ich finde kein treffenderes Wort) vom Boot, das voll ist (was für ein ekelhaftes Bild angesichts der Toten im Mittelmeer), davon, dass wir nicht alle undsoweiter.

Wenn die Welt sich erhebt, muss die Welt reagieren. Tut sie das? Und noch schärfer: Tun Sie das?

Italien wurde im Stich gelassen. Griechenland, Ungarn, Mazedonien und all die anderen Länder gelten uns nichts. Zäune halten keine Menschen auf, das Leben findet einen Weg. Ein Zaun hat zwei Seiten – sind Sie vielleicht froh, dass wir auf der anderen Seite stehen?

Noch sind die Flüchtlinge nicht organisiert. Was, glauben Sie, geschieht, wenn sich die Völkerwanderung zu etwas wesentlich Ungemütlicherem entwickelt? Noch sind es nur Ali, seine Frau und Kind, die der Lebenswille und das Lebensrecht (das Menschenrecht!) auf den Weg bringen. Was machen Sie, wenn Ali und all den anderen dieser Lebenswille hier ebenfalls abgewürgt wird? Haben wir dann den Terror in Passau, München, Heidenau? Der Einfall der Hundertausende ist deren Notwehr.

1997 lernte ich eine Bosnierin kennen; wir lebten im selben Haus. Die Mutter erzählte mir folgende Geschichte: Ein serbischer Soldat war in ihr Haus gedrungen und hatte sie gefragt, welches ihrer Kinder er erschießen solle, Dragica oder Ivica. Sie bat ihn, wenn er schon schlachten müsse, dann alle drei, also auch sie selbst.

Ich kann nicht sagen: die Politik. Die Politik, das sind Menschen wie Sie. Das muss jedem klar sein. Handeln Sie entsprechend? Schlafen Sie gut?

Matthias D. ist Handwerker, Gitarrenbauer. Er lebt in der Nähe von Passau. Wenn er an der Werkbank sitzt oder wenn ein Bauer, irgendein Bauer, auf seinem Trecker über den Acker zieht, dann finden diese „einfachen“ Menschen zur Ruhe und machen sich Gedanken. Matthias hatte eine ganz simple Antwort: Wir hätten Syrien entvölkern sollen. Nicht warten, sondern holen. „Holt die Menschen, evakuiert sie – und aus wäre es gewesen mit dem Krieg. Ohne Menschen kein Krieg!“

Und der „IS“ in dem blankgeputzten Land, er hätte hinweggefegt werden können, oder er hätte sich kannibalisiert. So aber heulen wir auf ob der „Völkerwanderung“, und ich stelle mir vor, wie stolz Sie waren, als Ihnen Ihr Pressestab dieses Wort ins Vokabelheft geschrieben hat, Völkerwanderung.

Völkerwanderung, das atmet Geschichte. Da blinzelt und säuselt historisches Bewusstsein in die Kameras und Mikrofone. Da gaukelt einer Verstehen vor. Völkerwanderung – schlimm, nicht wahr, liebe Mitmenschen?

Andererseits aber auch nicht wirklich schlimm, denn gut ist’s doch gegangen, damals vor fünfzehnhundert Jahren. Wir leben aber nicht mehr „vor fünfzehnhundert Jahren“. Wir leben in einer Zeit, in der Sie und Ihre Kaste Milliarden Euro durchwinken, als seien es verzichtbare Reserven. „All in“ haben Sie gepokert und stopfen wie der Spielsüchtige die neuen Löcher mit neuen (woher kommen die eigentlich?) Euro zu.

Eine einzige Milliarde sind eintausend Millionen. 150 Milliarden Euro (ist das nicht die Summe, die Griechenlands Banken bekommen haben, um sie wieder an uns, wohlverzinst, zurückzuzahlen?) sind hundertfünfzigtausend Millionen. Eine unfassbare Summe. Noch einmal mein Herrgottswinkel: Sie hätten mit dieser Summe jeden Passauer zum dreifachen Millionär machen können. Oder jeden Bürger, Baby bis Greis, mit 2.000 Euro zum Konsum ermuntern. Was aber tun Sie?

Sie und Ihre Kaste gibt sich kämpferisch und will das Taschengeld kürzen? Ist das die Art Problemlösung, mit der Sie glauben Menschen aufhalten zu können? Nochmal: Schlafen Sie gut?

Sie haben Soldaten ins Sterben geschickt. Wofür? Ich frage das wirklich: wofür? Kuwait wurde überrollt, Afghanistan wurde zermürbt, das arme Land. In dieser Sache waren sich so viele so einig. Warum nicht konnte man in den letzten drei, vier Jahren eine die Welt einspannende Rettungsaktion starten?

Ich weiß, ich weiß: Utopie. Doch was ist das für ein großer, was für ein guter Gedanke.

Ich beobachte Sie, Herr Scheuer. Wie und was planen Sie denn in Ihrem Alltag als Politiker? Mautfragen. (Das war ein meisterhaftes Stück Machtpolitik, das Sie und Ihr Ministerpräsident da geliefert haben: Unmögliches fordern, damit es aus Brüssel „nein“ dröhnt, damit man nachher und mit unschuldigem Augenaufschlag behaupten kann, man sei nicht dran schuld, dass jetzt jeder, auch der deutsche Autofahrer zahlen müsse für die Nutzung der Autobahn – und das Beste: Sie erhalten die Steuermilliarden aus der Maut, obwohl Sie, wie Sie dem Volk klar zu machen versuchten, alles dran gesetzt haben, dass der „Deutsche“ verschont würde. Bravo!) Zurück zur Utopie.

Wir erfahren mit keiner Silbe, wie viel Last Russland trägt. Wie viele Flüchtlinge Putins Land aufnimmt. Es rede mir keiner ein, dass Russland nicht vor ähnlichen Herausforderungen steht. Werfen Sie einen Blick auf den Atlas. Putin hat dieselben Sorgen und dasselbe Interesse. Was für eine grandiose Gelegenheit, große Politik zu machen.

Egon Bahr ist tot. Und Sie empören sich, weil Kohl nicht von Katja Epstein erwähnt wird in ihrer Eröffnungsrede bei den Europäischen Wochen als „Baumeister der Einheit“. Maut und Larmoyanz. Ist das Ihr Verständnis von Politik, Herr Generalsekretär? Von großer noch dazu?

Wir kennen uns nicht, Herr Scheuer. Vielleicht haben wir einen gemeinsame Bekannten. Es wäre mithin nicht ganz unrealistisch, dass wir aufeinander träfen in seiner Kaffeebar in Passaus Theresienstraße. Ich bin mir sicher, mir würden dann all die hier gestellten Fragen nicht einfallen. Ich wäre stumm, weil ich nicht so eloquent bin, wie es möglicherweise den Anschein macht.

Sie würden den Politiker geben, und ich den Menschen. Stimmvieh. Doch das Stimmvieh muht bereits vernehmlich. Nicht immer sozialkompatibel, siehe Schweiger, aber genauso unaufhaltsam wie die Menschen, die unterwegs sind. Es muht von rechts, es muht von links, es muht „aus der Mitte der Gesellschaft“, wie ihr Politiker bramarbasiert. Das hat mit „rechtsfreien Räumen“ nichts zu tun, und auch hier reden Sie wie der Blinde von der Farbe: Was, bitteschön, sind denn rechtsfreie Räume? Den einzigen rechtsfreien Raum, den ich kenne, ist der Sarg.

Wann verstehen Sie endlich, dass wir Menschen, das Stimmvieh und die Flüchtlinge, dasselbe wollen: Wir wollen leben. Uns in Deutschland ist das nicht so bewusst, denn unser Leben ist wohlgeordnet und penibel verwaltet, vielleicht lässt sich demnächst auch der Tod noch versichern.

Doch da sind Menschen unterwegs, denen das Leben andernorts auf gefährlichste, abartigste Weise verwehrt wird.

Mir bleibt zur Zeit des öfteren der Kaffee im Hals stecken. Weil Sie mir Angst machen. Wollen Sie und Ihre Kaste, dass wir Angst haben?

PS: Auf Ihrer Homepage bieten Sie Ihr Konterfei an, ein Schwarzweiß-Foto. Das Foto ist nicht schwarz/weiß. Es hat einen blauen Hintergrund und einen Stich ins Zartrosa, sehr schick. Ich halte diese Abweichung für symptomatisch. Sie sagen, das Bild sei schwarz-weiß. Und ich frage mich, ob ich vielleicht farbenblind bin oder ob mir hier einer mit des Kaisers neuen Kleidern kommen will.

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