Fantastisches Tool: So nutze ich Scrivener für meinen Job

Mein Beruf ist Lektor. Lektoren überarbeiten Manuskripte. Manuskripte kommen in der überwiegenden Zahl als Word-Dokument. Und damit beginnt die Misere. Doch Gott und Scrivener sei Dank: Sie endet nicht damit! Ein Hoch auf Scrivener!

Scrivener erleichtert meinen Beruf. Es ist das von mir favorisierte Werkzeug für all das, was meinen Beruf ebenfalls ausmacht: die Organisation umfangreicher und/oder komplexer Texte. In diesem Artikel zeige ich dir, wie ich Teile meiner Arbeit organisiere mit Hilfe von Scrivener, dem Multifunktionswerkzeug von Literature&Latte.

Das Projekt: Lektorat eines 200-seitigen Regionalkrimis, organisiert mit Scrivener

Die Autorin schickt mir ihren Krimi als Word-Datei. Das Manuskript umfasst 200 Seiten, es ist unterteilt in 100 Kapitel unterschiedlicher Länge.

Problem Nummer eins: Word zickt gerne bei längeren Texten. Das Programm wird langsam, es kann einfrieren, Scrollen durch den Text klappt und klappt auch nicht, manchmal springt der Rollbalken anscheinend unmotiviert – es kommt keine rechte Freude auf.

Problem Nummer zwei liegt in der Natur der Sache: Das Lektorat ist ein lebendiger, geradezu organischer Vorgang, selten mal ein linearer Prozess. Man beginnt vielleicht noch mit dem ersten Kapitel (was nicht notwendig so sein muss), dann aber führt der Work-flow immer wieder mal um etliche Seiten oder gar Kapitel zurück. Ein Lektorat kommt hier rasch ins Schleudern, zumindest ist die Aktualisierung der Dateien eine Herausforderung. Jeder Schritt sollte dokumentiert sein (ich verwende das Wort „sollte“ ungern: Man tut oder man tut nicht, lautet meine Devise), da verliert man rasch das Ufer aus den Augen, vom Ziel mal ganz zu schweigen.

Lösungen, Lösungsansätze und -versuche à la Scrivener

Scrivener „denkt“ und funktioniert anders. Die App benutzt keine Dateienstruktur, sondern arbeitet projektbezogen. Ich starte Scrivener, lege als erstes ein Projekt an und nenne es, sagen wir, „Lektorat Regionalkrimi“.

Dieser Schritt ist identisch mit dem Befehl „Neue Datei“ bzw. „Neuer Ordner“ aus sämtlichen anderen (Textverarbeitungs-)Programmen – die Auswirkung ist dramatisch anders.

Im Projekt „Lektorat Regionalkrimi“ kann ich nun sämtliche Erfordernisse ans Lektorat einspeisen. Das betrifft vornehmlich das Manuskript, das ich nun in seine Einzelteile gliedere, in seine Kapitel aufteile.

Aus eins mach viele mach eins

In Word würden aus der einen Manuskriptdatei hundert einzelne Dateien entstehen – ein Monstrum, einmal ganz abgesehen davon, dass dies eine enervierende Arbeit bedeuten würde: Kapitel suchen – Kapitel markieren – Text kopieren/ausschneiden – neue Datei öffnen – Text einfügen – Datei sichern – nächster Schritt, nächstes Kapitel. Eine Arbeit für einen verregneten Nachmittag.

Scrivener hilft mir bei der Zergliederung. Ich öffne das Manuskript in Word und setze vor jeden Kapitelanfang eine frei wählbare alphanumerische Kennung. Ich verwende für diesen Schritt stets die Folge „#44“. Scrivener „weiß“ nun: Kapitel beginnen immer bei „#44“. (Auch wenn’s so aussehen mag: #44 ist kein Hashtag, sondern nur eine Zeichenfolge, von der ich annehme, dass sie im Text ansonsten nicht vorkommt.)

Für den Import der Dateien nach Scrivener nutze ich den Befehl „Importieren und aufteilen“. In Sekunden liegen mir innerhalb des Projekts „Lektorat Regionalkrimi“ die hundert Kapitel vor – als einzelne Textabschnitte. Scrivener hat sie nummeriert, separiert und in der richtigen Reihenfolge sortiert von 1 bis 100. Eine gar nicht genug wertzuschätzende Erleichterung.

Next big thing: die Organisation der verschiedenen Stadien einer Bearbeitung

Der nächste Schritt klingt umständlich, ist es aber nicht. Da Scrivener (noch) keinen Überarbeitungsmodus à la Word besitzt (oder wie Adobe Reader oder Pages et al.), muss ich die Textüberarbeitung mit Word durchführen. Ich exportiere das erste zu bearbeitende Kapitel wieder aus Scrivener und zwar als Word-Format.

Kapitel 1 liegt jetzt als einzelne Datei vor, die ich in Word öffne und den Text nun lektoriere. Nach der Bearbeitung hat Kapitel 1 nur noch bedingt mit dem Original zu tun; viele Anmerkungen und Kommentare haben den Text verändert. Ich importiere diese Datei zurück ins Projekt „Lektorat Regionalkrimi“ und gebe ihr dabei eine neue Versionsnummer: 001-L – die Zahl ist selbsterklärend, das L steht für „Lektor“.

001-L geht zurück an die Autorin. Sie nimmt meine Korrekturen und Vorschläge an oder verwirft sie – es entsteht eine neue Version des ersten Kapitels mit der Bezeichnung 001-L-A (erstes Kapitel nach Erstlektorat und Autorenbearbeitung A). Dieses Spiel wiederholt sich bis zur finalen Version: 001-L-A-Lf. Die Datei kann ins Korrektorat.

In meiner Projektmappe (so heißt die Umgebung in Scrivener) liegen nun vier Versionen des ursprünglichen Textes: 001, 001-L, 001-L-A und 001-L-A-Lf. Ich markiere alle vier und nutze den Befehle von Scrivener „Neuer Ordner aus Auswahl“. Schwupps! legt Scrivener die markierten Dateien unter einem Ordner innerhalb der Projektmappe ab. Den Ordner taufe ich „Kapitel 1“. 

Vorteile dieses Verfahrens unter Scrivener

Zugegeben, in der Beschreibung mag das arg umständlich klingen, umständlicher jedenfalls als die knackige Ansage: Datei in Word öffnen und in Word bearbeiten – Vorteil und Nutzen des beschriebenen Verfahrens jedoch sind immens! 

1.) Alles, wirklich alles befindet sich an einem einzigen Ort: in der Projektmappe! 

2.) Wenn ich zwischen einzelnen Kapiteln wechsele, bleibe ich im Programm; über die linke Leiste greife ich auf sämtliche Versionen sämtlicher Kapitel direkt zu. Es gibt keine Flut an Fenstern, die verwirren könnte – ein Fenster genügt. (Dass ich im großen Bearbeitungsfenster alle Versionen eines Kapitels gleichzeitig anschauen und vergleichen kann, ist eine äußerst smarte Funktion.)

Fazit zur Arbeit mit Scrivener

Es ist mühsam, all die Vorzüge des Programms aufzuzählen; Scrivener überrascht denjenigen, der sich auf die App einlässt, immer wieder mit cleveren und nachhaltigen Lösungen. Man kann Scrivener als Textverarbeitung nutzen (dann nutzt man es wie den Porsche auf der Gokart-Bahn, was aber nichts macht, denn Scrivener kostet wirklich nicht die Welt). Seine Stärke liegt a) in der Projektierung umfangreichere Vorhaben wie Buch, Blog, Website, wissenschaftliche Arbeiten, und b) in seinen Möglichkeiten für Self-Publisher.

Hilfreiche Unterstützung findest du bei Interesse in der Facebookgruppe Schreiben mit Scrivener, mehr noch aber bei Gian Camichel. Gian ist der hochsympathische Crack in Sachen Scrivener; seine Website kann ich gar nicht genug empfehlen. Viel Erfolg und viel Spaß mit Scrivener!

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