Was tun, wenn deine Figur keine gute Figur macht? – Zum Problem der Figurensteuerung beim Schreiben eines Romans

Das kennt jeder Romanautor: Die Figur entwickelt plötzlich ein Eigenleben.

Du sitzt vor deinem Manuskript und starrst auf den Bildschirm. Deine sorgfältig geplante Protagonistin Sarah sollte eigentlich den charmanten Literaturprofessor heiraten – stattdessen hat sie sich gerade in den zwielichtigen Antiquitätenhändler verliebt. 💔

Du bist fassungslos: Wie konnte so etwas passieren?

Zweiter Zwischenfall: Dein Thrillerheld weigert sich, das verlassene Krankenhaus zu betreten. Und der dritte Fauxpas: Deine Fantasykriegerin legt die Waffen nieder und beschließt, Heilerin zu werden.

Willkommen im Albtraum jedes Autors: der unkontrollierten Figurensteuerung.

Dieses Phänomen betrifft nahezu jeden Romanautor. Nicht immer, natürlich, aber irgendwann einmal. Die Figurensteuerung gerät aus den Fugen, und plötzlich schreibt nicht mehr der Autor die Geschichte, sondern die Figur schreibt sich selbst.

Warum verselbständigen sich Romanfiguren? Die 4 häufigsten Ursachen

1. Unvollständige Charakterentwicklung in der Planungsphase

Der wahrscheinlichste Grund liegt in der oberflächlichen Figurenplanung.

Oberflächlich? Kein netter Vorwurf, ich weiß. Aber prüfe dich, und wenn ich falsch liege, fühl dich bitte nicht persönlich getroffen. Ich bin sicher: Bestimmt hast du als sorgfältig arbeitender Autor zu den »Prinzipien der Figurenentwicklung« recherchiert, und Google hat etliche YouTube-Videos geliefert. Einige hast du dir angeschaut, genug jedenfalls, um Bescheid zu wissen darüber, dass Figuren, um »abgerundet«* zu sein und dauerhaft im Gedächtnis zu bleiben, ein dreidimensionales Profil benötigen:

  1. die physiologische Dimension
  2. die soziologische
  3. die psychologische.

… alles richtig – alles Quatsch!

Quatsch bleibt es dann, wenn du dich auf diese drei Dimensionen beschränkst, genauer: wenn du dich mit dem ersten, dem äußeren Anschein begnügst. Was meine ich damit?

Aussehen, Beruf, Familienstand

Alle drei Dimensionen besitzen eine offenkundige Facette, eine, die für ihre Mitmenschen unmittelbar erkennbar ist. Physiologie (das Aussehen), Soziologie (der Lebensraum, das Milieu) und Psychologie (das Intrapersonelle deiner Figur, die – wie James Frey schreibt – Summe aus physiologischer und soziologischer Dimension, jede dieser drei Dimensionen kann man mit den Sinnen wahrnehmen. Ich sehe die Gestalt, ich höre, was deine Figur sagt, ich (und nun kommt der Haken:) bilde mir ein, die Figur wegen ihrer Taten zu kennen!

Wie gesagt: Quatsch – alles Quatsch.

Lausche einmal auf Trauerfeiern genau den Reden. Wie viele der Trauernden haben den Menschen, den sie in ihren Reden beschreiben, wirklich gekannt? Haben sie ihn nicht in den allermeisten Fällen bloß erlebt? Haben sie nicht in den allermeisten Fällen aus dem, wie sie den Menschen erlebt haben, auf sein Wesen geschlossen?

Die innere Motivation, die Ängste und die unbewussten Wünsche bleiben ungeklärt.

Meine Erfahrung aus beinahe vier Jahrzehnten Lektoratspraxis:

Figuren ohne psychologische Verankerung suchen sich ihre Motivation selbst. Dummerweise meist genau dann, wenn es der Gesamthandlung schadet.*

2. Mangelnde Konfliktklarheit

Jede Figur braucht einen inneren und einen äußeren Konflikt. Fehlt diese Doppelstruktur, beginnt die Figur, eigene Konflikte zu generieren. Dein Unterbewusstsein spürt die Leere und füllt sie. Am häufigsten durch irgendeine Art von Action, und oft genug unpassend zur ursprünglich geplanten Handlung.

3. Emotionale Übertragung des Autors

Tagtäglich widmen wir uns unseren Figuren, es kommt, wie es kommen muss: Wir fressen einen Narren an ihnen, wir verlieben uns. »Wir begehren, was wir sehen«, sagt Hannibal Lecter, dieser eminent kluge, gebildete und zugleich abgrundtief diabolische Psychiater aus »Das Schweigen der Lämmer« von Thomas Harris. (Sein Thriller dient in mancherlei Hinsicht als Vorbild für exzellenten Figurenentwurf und konsequente Figurenführung.)

Verlieben! Alltäglich passiert’s, ganz banal, vollkommen normal, nur wenn uns Autoren die Liebe zu unseren Figuren in den Weg kullert, entpuppt sie sich als Stolperstein:

Romanfiguren werden zu Projektionsflächen für die unbewussten Wünsche und Ängste ihrer Schöpfer.

Befindet sich etwa der Autor in einer Lebenskrise, dann rebelliert plötzlich auch seine bis dato fügsame, brave, mehr oder weniger blasse Figur gegen ihr geordnetes Leben. Und schon haben wir den Salat.

4. Unzureichende Plotvorbereitung

Lose Plotstrukturen weiten das Spielfeld, auf dem Figuren agieren; sie erhalten zu viel Interpretationsspielraum. Die »Regeln« des Plots, seine Vorgaben, gelten plötzlich nicht mehr, und dir entgleitet die Handlung. Wenn klare Szenenziele und Wendepunkte fehlen, folgen Figuren ihren spontanen Eingebungen statt der geplanten Dramaturgie.

Die 7-Schritte-Methode zur Figurensteuerung: So gewinnst du die Kontrolle zurück

Und wie findest du aus dem Dilemma wieder heraus? 

Versuche eine oder mehrere der folgenden sieben Empfehlungen. Sie werden dir vielleicht nicht gefallen, besonders nicht, wenn du dich im »Flow« befindest, in einer Schaffensperiode. Sehr wahrscheinlich ist: Wenn du jetzt nicht die Notbremse ziehst, wirst du früher oder später mit noch gravierenderen Schwierigkeiten konfrontiert werden. 

Schritt 1: Sofortiger Schreibstopp und Bestandsaufnahme

Höre sofort auf zu schreiben, wenn deine Figur »ausflippt«. Notiere dir stichpunktartig:

Was hat die Figur getan, das nicht geplant war?

Wann begann die Abweichung vom ursprünglichen Plan?

Welche Emotionen empfandest du beim Schreiben dieser Passage?

Praxistipp: Erstelle eine Tabelle mit drei Spalten:

Geplant – geschrieben – mögliche Ursache.

Diese Visualisierung deckt Muster auf.

Schritt 2: Tiefenanalyse der Figurenmotivation

Führe ein schriftliches Interview mit deiner Figur. Klingt das verrückt? Vielleicht, aber es funktioniert. Stelle ihr diese Fragen:

  1. Warum hast du das getan?
  2. Was fühlst du dabei?
  3. Was befürchtest du, wenn du es nicht tust?
  4. Welches Bedürfnis erfüllst du dir damit?

Schritt 3: Plot/Charakter-Abgleich

Überprüfe die Kompatibilität zwischen Plotanforderungen und Charakternatur. Erstelle eine Gegenüberstellung:

Plotanforderung Die Figur muss X tun.

Charakternatur Die Figur würde niemals X tun.

Lösung Finde eine charakterkonforme Alternative zu X oder ändere die Charaktermotivation.

Schritt 4: Die Kompromiss-Technik

Anstatt die Figur zu zwingen oder den Plot zu ändern, finde einen kreativen Mittelweg:

Wenn die Figur sich anders verhalten will, dann lass sie gewähren – jedoch mit Konsequenzen.

Integriere das neue Verhalten in den bestehenden Plot.

Nutze die Figurenrebellion als Wendepunkt oder Plottwist.

Schritt 5: Charakterbogen-Neujustierung

Passe den Charakterbogen (Character Arc) an die neue Figurenentwicklung an. Jede Figur braucht eine Transformation vom Ausgangszustand zum Endzustand. Wenn sich der Mittelweg ändert, muss auch das Ziel neu definiert werden.

Praktische Umsetzung

  1. Notiere den ursprünglichen Charakterbogen.
  2. Identifiziere den Abweichungspunkt.
  3. Definiere einen neuen, logischen Endpunkt.
  4. Plane die Zwischenschritte neu.

Schritt 6: Konfliktschärfung

Verstärke den inneren Konflikt der Figur, um sie kontrollierbar zu halten. Eine Figur im Konflikt ist berechenbar, weil sie zwischen klar definierten Alternativen wählen muss.

Die Konflikt-Formel:

Deine Figur will X + kann nicht X + muss aber X = kontrollierbarer Konflikt

Schritt 7: Präventive Figurenführung

Implementiere Kontrollmechanismen für zukünftige Kapitel:

Szenenplanung 
Definiere vor jeder Szene das Figurenziel.

Emotionscheck
Überprüfe deine eigene Stimmung vor dem Schreiben. 

Konsistenzprüfung
Gleiche jede Figurenentscheidung mit dem Charakterprofil ab.

Puffer-Szenen
Plane bewusst Szenen ein, in denen Figuren »ausbrechen« dürfen.

Aussicht auf erfolgreiche Figurenführung

In Teil 2 zeige ich dir weitere Ursachen, warum sich Figuren verselbständigen. Ich nenne Lösungen und gebe Tipps für die praktische Arbeit: Tools, die solcherart Probleme auffangen oder bereits im Vorfeld minimieren.

Fotocredits

Deine Figur – das unbekannte Wesen! Mir scheint das Foto von Brett Jordan auf Unsplash genau das zu visualisieren, was Autoren sehen, wenn sie ihre Figuren in Gang setzen: einen (manchmal) bedrohlichen, zugleich aber oft vage bleibenden Gesamteindruck.

Brett stellt sein Foto kostenlos zur Verfügung, danke dafür, Brett! 

Literaturempfehlung zur Figurenentwicklung

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