Zu den höheren »Weihen« beim Schreiben gehört das Design eines Charakters; je subtiler die Figur agiert, desto stärker ist die Wirkung (und ich rede jetzt nicht davon, dass ein Raufbold auch einmal eine Kneipentheke zertrümmern soll).
Hier unterscheidet sich Trivialliteratur von Kunst: Trivial führt vor, sie demonstriert, Kunst hingegen umschreibt – und je weniger plakativ, desto raffinierter die Wirkung.
Manchmal muss deine Figur lügen. Wie du das deinen Lesern vermitteln kannst, ohne ihnen ein Warnschild in den Weg zu stellen »Achtung! Lüge!«, diese Technik zeige ich dir an einem Video des Bundeskanzlers Friedrich Merz.
»Ganz ehrlich, noch nie« – Wenn Rhetorik und Kamera sich verbünden
Eine Lüge, um geglaubt zu werden, muss »gut« sein. Gut nicht im moralischen Sinne, gut in einem qualitativen Sinne. Sie muss gelingen.
So überzeugt deine Figur als Lügner:
- sie verstärkt (»Ganz ehrlich«, »Wirklich«, »tausendprozentig«)
- sie wiederholt (»Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, ich wiederhole: mein Ehrenwort …«; Barschel in der sogenannten Ehrenwortkonferenz)
- sie schwört (»Ich schwöre«, »bei Gott«, »Ehrenwort«)
- sie appelliert (»das weiß doch jeder!«, »da können sie jeden fragen!«)
- sie übertreibt zum Zweck der Ablenkung (»Noch nie!«, »Mit Schaum vorm Mund …«)
- sie bedient sich überpräziser Auskünfte (»Um 19:03 Uhr war ich daheim!«)
- sie stützt sich auf Vertrautheit (»Sie kennen mich!«, »Das habe ich noch nie so gemacht!«)
Im »Merz-Video« kommt etwas hinzu: Die Kameraführung pusht die Worte des Kanzlers! Das kannst du dir, abseits der verwendeten Wörter, zum Vorbild nehmen beim Beschreiben der Szenerie rund um die Lüge.
Zwischen Täuschung und Tragik: Wie man die Lüge nicht benennt, aber fühlbar macht
Ein nur schmaler Grat trennt die Lüge von der Unwahrheit. Das eine, die Lüge, geschieht bewusst; das andere, die Unwahrheit, kann einem unterlaufen aus den unterschiedlichsten Gründen:
- aus Vergesslichkeit
- weil man sicher geglaubtes Wissen mit Meinung verwechselt
- weil jemand anderer es gesagt und ich ihm geglaubt habe.
Es folgt eine Analyse der uns interessierenden Passage aus dem Merz-Video. Hier die Mitschrift, das Skript:
Skript des Merz-Videos
Ich habe noch nie, ganz ehrlich, noch nie bei einem Fußballspiel so gefiebert wie am letzten Samstag. Das war sensationell. Fußballgeschichte für Deutschland.«
Verdachtsmomente. Die Analyse
Merz: Eine sensationelle Parade von Ann-Katrin Berger bei dem Spiel am Samstag.
Da gibt es nichts zu deuteln: Ann-Katrin Berger, die Torhüterin, hat im Spiel gegen Frankreich eine sensationelle Parade gezeigt.
Merz: Ich habe noch nie …
Merz: … ganz ehrlich …
Merz: … noch nie …
Merz: … bei einem Fußballspiel so gefiebert wie am letzten Samstag.
Merz: Das war sensationell. Fußballgeschichte für Deutschland.
Die Kamera
Es fällt schwer, dem Kanzler zu glauben, ja, mehr noch: Nicht nur die Wortwahl des Kanzlers erschwert die Glaubwürdigkeit, auch die Kameraführung unterstützt den Verdacht einer dramaturgisch hoch professionell inszenierten Jubel-PR-Kampagne.
Indizien für eine Jubel-PR-Kampagne
In dem Moment, in dem Merz »noch nie« sagt, zoomt die Kamera in Richtung Merz’ Gesicht. Als der Kanzler die Floskel wiederholt (»ganz ehrlich, noch nie«), folgt der zweite Zoom-Sprung: noch näher heran. »Komm mir nah, lieber Zuschauer«, scheint die Kamera sagen zu wollen, »vertrau mir.«
Ich glaube ihm, dass ihn der Sieg gefreut hat. Was darüber hinausgeht, haben die Kollegen um Alex Purrucker bei #nius-live freundlich und fröhlich kommentiert.
Fazit: Was wir von politischen Lügen fürs Schreiben lernen können
Die »Gefahr« beim Design einer Lüge: Figuren, die zu sehr überzeugen wollen, entlarven sich oft selbst. Stell dir immer folgende Frage:
Welchen Zweck verfolgt die Lüge meiner Figur in diesem Moment, in dieser Szene?
- Verteidigung?
- Abwehr?
- Täuschung?
- Eigennutz?
- Manipulation?
- Selbstschutz?
- Schutz anderer (die »edle« Lüge)?
- Realitätsflucht (Aufwertung der eigenen Person)
Es gib sicherlich mehr Gründe für eine Lüge. In deiner Geschichte kannst du die Lüge als Strategie nutzen für ein vielfältiges Profil deiner Charakteren:
Soll deine Figur ein notorischer Lügner sein?
Nutzt deine Figur die Lüge als (aus seiner Sicht) legitimes Mittel auf dem Weg zum Ziel?
Ein virtuoses Beispiel aus der Literatur ist der Kriminalroman »Ihr Königreich« von Jo Nesbø. Hier prasselt ein Lügengebilde aufs nächste.
Transparenzhinweis und © Titelbild
Das Foto zum Thema Wahrhaftigkeit fand ich auf unsplash.com.
Danke an Claudio Schwarz, die das Foto geschossen hat und auf Unsplash kostenlos zur Verfügung stellt.
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